Queere Menschen sind Teil unserer Gesellschaft. Dennoch erleben viele im Alltag Abweisung oder Feindseligkeit. Besonders bei Jugendlichen ohne stabiles Netzwerk kann dies eine gesunde Identitätsentwicklung gefährden. Für sie ist unser Hilfeangebot, Deutschlands erste queere Wohngruppe. In diesem Beitrag beschreiben wir den Weg von der Idee bis in das Heute. Wir berichten über drei Jahre gelebte Vielfalt – mit Höhen und Tiefen, doch stets in dem Wissen, mit diesem Jugendhilfeangebot für viele queere junge Menschen eine positive Veränderung zu bewirken.
Die Idee
Im Rahmen unserer langjährigen beruflichen Arbeit begegneten uns immer wieder queere junge Menschen. Einige lebten die Queerness offen, andere zeigten sich nicht. Während der Flüchtlingswelle in den Jahren 2016/2017, machte besonders die Arbeit mit männlich gelesenen unbegleiteten Minderjährigen die Notwendigkeit einer gezielten Unterstützung deutlich. Diese Jugendlichen trauten sich, oft erst nach längerer Zeit in Deutschland, die wahren Fluchtgründe zu nennen. Sie berichteten von Erlebnissen in ihren Herkunftsländern, von Missachtungen, von Misshandlungen, von Ausschlüssen aus Familien und Heimatdörfern. In Deutschland erlebten sie, dass Queerness eher Akzeptanz findet. Wir beobachteten wie gestärkt diese Jugendlichen aus annehmenden Kontakten kamen. Die Beobachtungen beschränkten sich damals vorrangig auf die ambulante bzw. offene Jugendarbeit, aber uns wurde bewusst, dass viele queere Jugendliche einen schützenden Rahmen für eine angstfreie Identitätsentwicklung brauchten.
Ein exklusives Angebot für queere junge Menschen
Neben den für alle üblichen Entwicklungsaufgaben der Adoleszenz stehen queere Jugendliche vor zusätzlichen einzigartigen Herausforderungen. Fehlende Unterstützung kann sich negativ auf ihre Entwicklung auswirken. Akzeptanz und Förderung sind unerlässlich, damit Jugendliche lernen, Belastungen bewältigen und ihren Lebensweg positiv gestalten zu können. Spezialisierte Angebote der Kinder- und Jugendhilfe können hier einen wichtigen Beitrag leisten!
Trans- und Homophobie können viele Auswirkungen auf die Persönlichkeit queerer Menschen haben. In schulischen wie gesellschaftlichen Kontexten führen Vorurteile und Diskriminierungen zu großer Belastung. Mitunter erleben Jugendliche aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität ausgeprägte Familienkonflikte, die zu Ablehnung, Verstoß sogar bis hin zur Obdachlosigkeit führen können. Sozialer Rückzug, Isolation, psychische Gesundheitsprobleme wie Depressionen, Angst, suizidale Gedanken können Folgen der Stigmatisierung, der Ablehnung oder innerer Konflikte im Zusammenhang mit der Identitätsfindung sein.
Diese und viele Gründe mehr bewegten in uns die Idee zu einem spezialisierten Angebot. In der Kölner Wohngruppe Queere Vielfalt leben! finden Jugendliche einen sicheren Ort, an dem sie frei von Diskriminierung und Vorurteilen über ihre Identität sprechen und sich akzeptiert fühlen können. Einen Schutzraum, in dem sie durch professionelle Fachkräfte queersensible Unterstützung bei der Identitätsfindung sowie bei Fragen zur Sexualität, Geschlechtsidentität und anderen allgemeinen Entwicklungsthemen erhalten. Die Wohngruppe ermöglicht das Zusammenleben und den Erfahrungsaustausch mit anderen queeren Jugendlichen. Ähnliche Erfahrungen können Mutmacher sein, Selbstwert sowie Gefühle der Verbundenheit und Zugehörigkeit zu stärken. Insgesamt kann eine Wohngruppe für queere Jugendliche ein lebenswichtiges Angebot sein. Ein Ort, an dem sie so sein können und so akzeptiert werden, wie sie sind. Ein Ort, an dem sie sich ausprobieren können, z.B. in ihrem Äußeren. Ein sicherer Ort, an dem sie geschützt und begleitet werden.
In allen Angeboten der Jugendhilfe stellt sich die Frage, ob ein Angebot exklusiv sein muss oder inklusiv sein kann. Unsere Erfahrungen und Recherchen zeigten, dass einige queere Jugendliche ein exklusives Angebot benötigen, andere in bestehenden Jugendhilfeangeboten sicher aufgefangen werden können. Ob exklusiv oder inklusiv, wesentlich ist, dass das pädagogische Team queersensibel zu arbeiten versteht und queeren Menschen mit Wissen, Akzeptanz und Wertschätzung begegnet. Ebenso wesentlich ist es, die Belegung und Gruppenstruktur so auszurichten, dass Integration und ein diskriminierungsfreier Raum selbstverständlich sind.
Von der Idee zur Planung
So entstand die Idee, eine Wohngruppe für queere Jugendliche aufzubauen. Nach einiger Recherche wurde deutlich, dass ein solches Angebot deutschlandweit nicht existierte, es hier also um Pionierarbeit ging. Die ersten konzeptionellen Ideen wurden gebündelt, bevor wir auf einen Berliner Träger stießen, der Wohngemeinschaften für ältere queere Menschen anbietet. Andreas Schröder, Bereichsleitung queer leben/ stationäre Angebote, Trialog Jugendhilfe gGmbH, zeigte sich offen für einen Austausch und so konnten wir bei einem Besuch in Berlin über die Besonderheiten der pädagogischen Arbeit mit queeren Jugendlichen sprechen.
Ausgehend von unseren Jugendhilfeerfahrungen, ergänzt mit erworbenem Wissen zur Zielgruppe, entwickelten wir ein Konzept, dem wir die Arbeit in einer Intensivgruppe für Jugendliche ab 14 Jahren zugrunde legten. Zusätzlich nahmen wir Themen, in denen Queerness eine besondere Rolle spielt, unter die Lupe. Bekanntlich ist Elternarbeit, sofern nicht gewichtige Gründe gegen einen Kontakt sprechen, ein wesentlicher Bestandteil der pädagogischen Arbeit und mitentscheidend für einen gelingenden Hilfeverlauf. Im Kontext der queersensiblen Arbeit zeigte sich, dass Kontakte zur Herkunftsfamilie oft nicht im Interesse der Jugendlichen lagen, häufig sogar nicht gewünscht waren. Daher orientiert sich die Elternarbeit bis heute verstärkt an den Bedürfnissen der Jugendlichen. Kontakte bzw. Besuche finden nur auf ihren Wunsch statt. Über aktuelle Entwicklungen werden die Sorgeberechtigten mit Wissen der Jugendlichen regelmäßig informiert. Auch wenn diese Vorgehensweise im Alltag zu manch schwieriger Situation führte, halten wir daran fest.
Auch der Bereich der schulischen bzw. beruflichen Ausbildung ist für queere Jugendliche häufig problembelastet, da sie u.a. Vorurteile, fehlende Akzeptanz und Diskriminierung erlebten. Wir verdeutlichten allen Beteiligten zu Hilfebeginn, dass der Schul- oder Ausbildungsbesuch zunächst nicht oberste Priorität haben, sondern schrittweise angegangen werden.
Die Begleitgruppe
In der Planungsphase wurde schnell deutlich, dass wir neue Wege gehen müssen. Als freier Träger der Jugendhilfe benötigen wir zur Eröffnung eines Angebotes die Zustimmungen des örtlichen und des Landesjugendamtes. Beide sahen den Bedarf für das Angebot selbst und die Exklusivität kritisch. Um diese Skepsis fachlich beantworten und das Wissen der schon in Köln vorhandenen Fachkräfte spezialisierter Angebote mit einbeziehen zu können, gründeten wir eine Begleitgruppe. Zu dieser gehörten Mitarbeiter*innen des örtlichen Jugendamtes, des Amtes für Diversity, des Landesjugendamtes, des örtlichen queeren Jugendzentrums und der queeren Beratungsstelle. Gemeinsam besprachen wir das Konzept und die konkreten Bedarfe. Wir benannten mögliche Stolpersteine, stimmten Vorgehensweisen ab und entwickelten wichtige Kooperationsideen. Im Verlauf des gemeinsamen Prozesses wurde auch für die Skeptiker*innen die Relevanz einer spezialisierten Wohngruppe für queere junge Menschen deutlich. Alle in der Begleitgruppe erarbeiteten Punkte wurden in das Konzept eingepflegt. Abgesehen von der Tatsache, dass durch diese Kooperation ein abgestimmtes Grundverständnis für die queere Arbeit und die Notwendigkeit dieser Arbeit erreicht wurde, konnte so bereits vor der Wohngruppeneröffnung ein wertvolles Netzwerk aufgebaut werden.
Von der Planung zur Umsetzung
Innerhalb unserer Trägerstruktur ist zur Etablierung eines neuen Angebotes die Zustimmung der Geschäftsführung und des Aufsichtsrates notwendig. Diese Hürde konnte durch Darlegung der ermittelten Bedarfe sowie die konkrete Zielgruppenbeschreibung genommen werden, so dass nach der Zustimmung die Suche nach einer Immobilie beginnen konnte. Uns waren viele Details, u.a. die Auswahl des Wohnumfeldes wichtig, um bestmögliche Voraussetzungen zu schaffen und etwaige Schwierigkeiten oder Diskriminierungen im direkten Wohnumfeld zu vermeiden. Das ausgewählte Haus hat eine gute Etagen- und Raumaufteilung. Und wir hatten bei der vorherigen Belegung mit minderjährigen Flüchtlingen großes Glück mit der Nachbarschaft und gute Erfahrungen gemacht. Wir hofften auf dieselbe Akzeptanz für queere junge Menschen – was sich auch bewahrheitete.
Der Aufbau
In der intensiven Vorbereitungsphase standen Planungen zur Teamkonstellation und zur Wohngruppenbelegung im Mittelpunkt. Unser Wunschteam verfügte über ein Wissen zu Queerness, hatte solide Jugendhilfeerfahrungen und bildete Vielfalt in vielerlei Hinsicht ab, um Jugendliche in der Pubertät mit den Herausforderungen der Queerness fachlich sensibel begleiten zu können. Wir wünschten uns eine offene, einfühlsame Haltung, mit der Unterstützung gelingen konnte. Kolleg*innen mit der Bereitschaft zu persönlicher Reflexion, mit Lust auf Weiterentwicklung, mit Energie und Mut, gemeinsam Neues zu wagen. Tatsächlich hatten wir Glück, da u.a. interne Kolleg*innen ein hohes Interesse an dem Angebot zeigten. Die Wohngruppe wurde schrittweise belegt, um allen Zeit zu geben, sich im Miteinander und dem neuen Angebot zurecht zu finden.
Qualifizierung
Seit neun Jahren arbeiten wir mit dem multiprofessionellen Team des Instituts für Sexualpädagogik und sexuelle Bildung (isp) GmbH mit Sitz in Koblenz zusammen. Durch die Expertise der Dozent*innen gelingt es über all die Jahre, Themen der Sexualpädagogik und sexuellen Bildung lebendig in den pädagogischen Alltag zu implementieren. Fortbildungen, Coachings, Konzeptentwicklungen und Fachtage seien exemplarisch aus dem Qualifizierungsprozess genannt, durch den es gelingen mag, junge Menschen in ihrer sexuellen Entwicklung gut zu begleiten. In der Wohngruppe Queere Vielfalt leben! begleitet Christine Kanz, Dozentin des isp, das Team von Anfang an: „Wesentliche Aspekte des Coachings sind die Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle und Haltung bezogen auf sexuelle, geschlechtliche und amouröse Vielfalt. Die Bewohner*innen der queeren Wohngruppe sind häufig Mehrfachdiskriminierungen ausgesetzt und benötigen eine queersensible Unterstützung bei der Bewältigung dieser Herausforderungen. Im Coaching wird den pädagogischen Fachkräften der Raum gegeben, sich und ihren Umgang mit den queerspezifischen Themen zu reflektieren und zu professionalisieren“.
Erste Aufnahmen
Die eingehenden Aufnahmeanfragen lasen wir mit Fokus auf die drängendsten Themen der Jugendlichen. Beispielsweise Bodyshaming, familiäre Ablehnung, Diskriminierung, mangelnde Sichtbarkeit und Anerkennung ihrer Identität, Schwierigkeiten in der schulischen, beruflichen Anbindung, selbstverletzendes Verhalten u.v.m. So prüften wir, wie uns eine optimale Begleitung der Person gelingen kann. Die Kennenlerngespräche führten wir immer zu zweit, um zu einer Einschätzung und tragfähigen Entscheidung zu finden.
Stolpersteine
Bis heute stellen zwei Punkte in unserer Arbeit die größten Herausforderungen dar. Einer ist die Anbindung an Therapeut*innen, Kinder- und Jugendpsychiater*innen und an Ärzt*innen. Dank Kooperationen innerhalb des Trägerverbundes konnten wir auf die Gemeinnützigen Medizinischen Versorgungszentren KölnBonn (GMKB) und damit auf eine schnellere therapeutische wie medizinische Anbindung zugreifen. Bei den Therapeut*innen gab es Wartelisten und anfangs waren auch sie nicht queersensibel aufgestellt. Der Zugang zur Gesundheitsversorgung und die Suche nach Fachkräften, die für queere Menschen sensibilisiert sind, gestaltete sich schwierig. In unserer Arbeit zeigt sich immer wieder, dass Ansprechpartner*innen, die mit queeren Menschen themensensibel arbeiten, von den Jugendlichen gewünscht und für sie wichtig sind. Dies gilt einmal mehr für transidente Menschen bei Ärzt*innenbesuchen. Es gibt wenig spezialisierte Anlaufstellen und es braucht aufgrund langer Wartezeiten schlicht Geduld. Mittlerweile ist es uns gelungen, ein tragfähiges Netzwerk aufzubauen.
Der zweite schwierige Punkt war und ist die schulische bzw. auch berufliche Anbindung. An Schulen und Ausbildungsstätten fehlt es oft an Queersensibilität, so dass die Jugendlichen aufgrund gemachter Diskriminierungserfahrungen dazu neigen, sich dem Schul-, bzw. Ausbildungssystem zu entziehen und mit Schulabsentismus und Verweigerungshaltung reagieren. In der Kooperation mit den Jugendämtern bedeutet dies, realistische Ziele zu vereinbaren, die im Einklang mit der psychosozialen Verfassung der Jugendlichen stehen. Es gilt ein angemessen ausgewogenes Gleichgewicht zwischen Anforderung und Verständnis zu erreichen, ohne einen unangemessen hohen Schutzraum zu errichten. Stetig gilt es der Tatsache Rechnung zu tragen, dass der Umgang mit Queerness unserer Gesellschaft (noch) nicht vertraut und keineswegs selbstverständlich ist. Letztendlich ist es die Haltung handelnder Personen, verstärkt durch das Fehlen queersensibler Strukturen, die die Stolpersteine ausmachen.
Damals und heute
Erfreulicherweise können wir heute, mit dreijähriger Erfahrung trotz so mancher Schwierigkeit voller Überzeugung sagen, dass es richtig war, Mut, Aufwand und Energie in die Eröffnung dieser exklusiven Wohngruppe Queere Vielfalt leben! zu setzen. Neben erfolgreichen Fallverläufen bestärken uns vor allem die Jugendlichen, die immer wieder betonen, dass sie an einem sicheren Ort leben, an dem es möglich wurde, sich zu finden und zu entwickeln. Im Dezember 2020 zog die erste Person in die Wohngruppe ein, drei Monate später hatten wir bereits Vollbelegung. Bis heute lebten 24 junge Menschen in der Kölner Wohngruppe. Die durchschnittliche Verweildauer beträgt ca. ein Jahr. Das Aufnahmealter liegt im Schnitt bei 16 Jahren, die jüngsten waren 14 Jahre alt. Mit Blick auf die Fallverläufe wiederholten sich schwierige Themen wie Depression bzw. depressive Verstimmungen. Anhaltende negative Emotionen waren in der Regel mit Antriebslosigkeit und Rückzugstendenzen verbunden. Entsprechend anspruchsvoll war es, die Jugendlichen an einen strukturierten Tagesablauf heranzuführen. Medizinische wie therapeutische Hilfen spielten hier eine wesentliche Rolle, u.a. in Bezug auf notwendige medikamentöse Einstellung oder gegebenenfalls klinische Aufenthalte. Ebenso wichtig war, dass die Betroffenen Bewältigungsstrategien für ihre Erkrankung erlernten, um im Leben und Alltag zurechtkommen zu können.
Wie aus langjähriger Jugendhilfepraxis bekannt, ist die Herkunftsfamilie, sofern sie dem Wohl des Kindes dient, von entscheidender Bedeutung für einen gelingenden Hilfeverlauf. Einige Jugendliche erfuhren bitter, dass ihre Familien sie aufgrund ihrer geschlechtlichen Identität oder sexuellen Orientierung ablehnten. Das Bewältigen dieser Ablehnung ist äußerst herausfordernd. Familie steht für Sicherheit, Zugehörigkeit, Liebe und betrifft die fundamentalen Bindungen im Leben eines Menschen. Zu erkennen und zu fühlen aus der eigenen Familie ausgegrenzt zu werden, hat belastende Folgen und bedarf sensibler therapeutischer Aufarbeitung.
Thematische Ausreißer in der pädagogischen Arbeit war das Thema Sexarbeit. Dieses fordert eine aufklärende, nicht verurteilende Haltung, um Jugendliche für Gefahren der Gewalt, des Missbrauchs und sexuell übertragbarer Krankheiten zu sensibilisieren und ihnen Möglichkeiten des Selbstschutzes aufzuzeigen. Auch hier waren wir für die Unterstützung der Coacherin dankbar, die erlebte Übergriffssituationen mit den Jugendlichen und dem Team gut aufarbeitete. Die Arbeit mit queeren Jugendlichen hat viele Veränderungen bewirkt, die sich auf uns und die Institution auswirkten. Pädagogisch hat das Team heute ein großes Knowhow und ein stabiles Bewusstsein für eine queersensible Intensivpädagogik entwickelt. In gut drei Jahren gelebter Praxis ist das multiprofessionelle Team mit unterschiedlichen sozio-sexuellen Biografien fachlich, sicher auch persönlich durch vielfältige Herausforderungen stetig gewachsen. Viele Schritte, die gelernt werden mussten, die anfangs Bearbeitungsfragen im Tagesablauf aufwarfen, gehören heute zur gelebten Routine. Positive Routine schafft Raum für das Wesentliche, die pädagogische Arbeit mit den Jugendlichen. Auch wenn Lernprozesse in einem neuen Angebot dazu gehören: queersensible Anlaufstellen hätten wir sehr gerne schon im Vorfeld gekannt!
Queersensible Arbeit im Wandel: Perspektiven und Fortschritte
Sprache schafft Wirklichkeit. Der bewusste Umgang mit einer gendergerechteren Sprache war von Anfang an ein emotionales Thema. Das Gendersternchen mitzusprechen, stieß auf Befremdung, während es geschrieben immer geläufiger wird. Trotz queersensibler Angebote wird auch bei uns nicht vom Vorstand bis zu allen Mitarbeitenden gegendert, aber die Queersensibilität und die Bereitschaft zu lernen, nehmen zu. Kolleg*innen schätzen das ungezwungene Gender-Klima, das einen entspannten Umgang mit der eigenen Geschlechtsidentität ermöglicht.
In der Zusammenarbeit mit multiprofessionellen Fachkräften wurde deutlich, dass es im Grunde nicht an Wissen über Queerness, queersensible Arbeit oder über Hilfsmöglichkeiten für queere Menschen fehlt. Aber es wurde offenkundig, wie wichtig es ist, die Themen queerer Menschen sichtbar zu machen. Daher luden wir im Mai 2021 erstmalig unter der Überschrift „Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt in der Kinder- und Jugendhilfe“ zu einem Fachtag ein, der sich in diesem Jahr zum dritten Mal wiederholte. Vorab boten wir Onlineseminare zu queeren Themen und Fragestellungen an. Die Debatten um sexuelle und geschlechtliche Vielfalt nehmen zu, so dass es wichtig ist, eine abgestimmte Haltung zu entwickeln, wie wir in unserer Einrichtung mit dem Thema umgehen und eine vielfaltsgerechte Sexualpädagogik leben können. Das Sichtbarmachen ist uns ein großes Anliegen. Über Online-, und Präsenzangebote möchten wir ermutigen, das Thema queere Vielfalt zu entdecken. Wissen schafft Sicherheit und unterstützt eine wertschätzende Diversitätskultur. Mit über 450 pädagogischen Mitarbeitenden sind wir in einem kontinuierlichen Qualifizierungsprozess.
Queeren Jugendlichen, die ein exklusives Betreuungsangebot benötigen, möchten wir auch künftig exklusive Hilfen und einen sicheren Ort anbieten. Wie wichtig das ist, belegen die Anfragezahlen. Daher eröffneten wir im Mai 2023 mit Colours die zweite intensivpädagogische Wohngruppe für queere Jugendliche, die bereits im August voll belegt war. Insgesamt zählen wir bis April 181 Anfragen für die beiden Angebote. Dass nach einem Stabilisierungs- und Lernprozess der Übergang von einem exklusiven zu einem inklusiven Angebot gelingen kann, sehen wir bei Jugendlichen, die heute in Anschlussmaßnahmen wie z.B. dem Betreuten Wohnen leben.
Künftig möchten wir Kooperationen ausweiten und neue Kontakte knüpfen, um den Austausch und die Weiterentwicklung fachlicher Ideen zu fördern. Erfahrungsgemäß braucht es Zeit bis sich Dinge etablieren. Auch wenn den bayrischen Bürger*innen das Gendern an Schulen, Hochschulen und Behörden verboten wurde, lässt sich die Sprachentwicklung nicht aufhalten. So sind z.B. Anglizismen fester Bestandteil unserer Sprache. Doch, wie formulierte Goethe treffend: „Es hört doch nur jeder, was er versteht“ und zum Hören, Verstehen und Sehen werden wir auch künftig gerne unseren Beitrag leisten.
Petra Vogt & Antje Martens