Queere Lebensweisen sind Teil der großen Vielfalt in unserer Gesellschaft. Dazu gehören beispielsweise lesbische, schwule, bisexuelle, nicht binär, trans- oder intergeschlechtliche (LSBTIQ*) Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene, die sich nicht den gängigen Geschlechterrollen anpassen. 2019 hat das Bundesverfassungsgericht das dritte Geschlecht anerkannt und damit kam das Thema ins Rollen. Im selben Jahr haben sich Petra Vogt von der Evangelischen Jugendhilfe Godesheim und Birgit Wagner von der Diakonie Michaelshoven intensiv mit der Thematik einer queer-sensiblen Erziehungshilfe auseinandergesetzt, um Angebote für queere Jugendliche zu schaffen. Im Dezember 2020 wurde die bundesweit erste stationäre Wohngruppe für queere Jugendliche, von der Evangelischen Jugendhilfe Godesheim in Köln-Klettenberg eröffnet. Außerdem stehen weitere betreute Wohnmöglichkeiten in Köln und Beratungsmöglichkeiten zur Verfügung, damit queere Jugendliche auf ihrem Weg der Identitätsfindung begleitet werden.
Seit letztem Jahr gibt es erstmalig Angebote speziell für queere Jugendliche. Wie kam es dazu?
Petra Vogt: Ich bin seit 20 Jahren in der Jugendhilfe und habe immer junge Menschen getroffen, für die ihr Queer sein ein großes Thema ist. In der Arbeit mit Unbegleiteten Minderjährigen Ausländern (UMA) habe ich zudem vermehrt festgestellt, dass es viele Menschen unter ihnen gibt, für die ihr Queer sein schwierig ist. Eine große Anzahl von ihnen ist aus diesem Grund geflüchtet. Sie haben es häufig nicht direkt benannt, weil sie sich nicht getraut haben oder weil sie nicht wussten, ob sie es in Deutschland offen sagen dürfen. Das hat sich dann erst durch längere Gespräche und Betreuungssituationen herauskristallisiert. Und dann haben wir gemerkt, wie sie sich entfalten können, wie gut es den Jugendlichen plötzlich geht, wenn sie die Freiheit bekommen, so zu sein, wie sie sind und wie sie sein möchten. Ab diesem Zeitpunkt konnten wir sie unterstützen, damit sie sich ohne Ängste entfalten können. Das war ein beeindruckender Prozess.
Dadurch wurde mir dann bewusst, dass wir für diese Zielgruppe noch mehr machen können. Wir können viel inklusiv und auch integrativ arbeiten, was sehr wichtig ist. Aber bei dieser Zielgruppe gibt es viele Menschen, die erst mal eine besondere intensive Begleitung und einen besonderen Schutzraum brauchen, damit sie sich zeigen und entfalten können. Wir haben uns mit der Diakonie Michaelshoven zusammengeschlossen und haben eine intensive Recherche betrieben, dabei bestehende Angebote u.a. in Berlin angeschaut, uns ein Netzwerk aufgebaut, mit Expertinnen und Experten ausgetauscht und unsere Konzepte darauf basierend ausgearbeitet.
Im Dezember 2020 eröffnete die stationäre Wohngruppe „Queere Vielfalt“. Wie kann man sich die WG vorstellen?
Petra Vogt: Wir haben ein klassisches Stadthaus in Köln-Klettenberg, das auf drei Etagen Platz für neun Jugendliche im Alter ab 14 Jahren bietet. Auf jeder Etage befinden sich Einzelzimmer, Bäder, die sich die Jugendlichen teilen und Gemeinschaftsräume. Es gibt hier auch die Möglichkeit der Verselbstständigung, das heißt die Vorbereitung auf das selbstständige Wohnen. Das Besondere an dieser Wohngruppe ist, dass hier eine 24-Stunden-Betreuung erfolgt, das ist bundesweit einzigartig.
Wer betreut die Jugendlichen?
Petra Vogt: Aktuell sind es sieben Kolleg:innen im Team. Das Team setzt sich aus Erzieher:innen und Sozialpädagog:innen zusammen, mit und ohne Feldkompetenz. Die Kolleg:innen bringen darüber hinaus noch Kompetenzen zu unterschiedlichen Themenschwerpunkten mit, wie beispielsweise psychiatrischem Hintergrund, Drogenberatung oder Sexualpädagogik.
Am 2. Dezember eröffnete die Wohngruppe und sie ist schon voll belegt. Wie wurden die Jugendlichen auf diese WG aufmerksam?
Petra Vogt: Die Jugendlichen wurden durch die für sie zuständigen Jugendämter zu uns vermittelt. Einige Jugendliche waren im Rahmen der Inobhutnahme untergebracht, bei anderen häuften sich zu Hause die Schwierigkeiten. Die Jugendlichen erleben in unterschiedlichsten Bereichen Mobbing, Diskriminierung und reagieren mit vielfältigen Problemlagen, diese können dann oft in den Herkunftsfamilien nicht aufgefangen werden.
Frau Wagner, Sie bereiten aktuell ein Ambulantes Wohnangebot vor. Wie kann man sich das vorstellen?
Birgit Wagner: Unser ambulantes Angebot in Köln bietet neben der intensiven Einzelbetreuung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen und deren Familien eine queersensible Wohnform mit fünf Plätzen an. Hierfür wurde unsere ehemalige Wohngemeinschaft für „Unbegleitete Minderjährige Ausländer:innen“ renoviert und wohnlich ausgestattet, so dass sie nun eröffnen kann. Das Aufnahmealter beträgt 16 Jahre. Vorrausetzung ist eine relative Selbstständigkeit. Da es sich um ein ambulantes Angebot handelt, werden die Bewohner:innen stundenweise betreut.
Wie viele Mitarbeitende werden die Jugendlichen betreuen?
Birgit Wagner: Für dieses Wohnangebot sind vier pädagogische Fachkräfte eingeplant, die die Jugendlichen und jungen Erwachsenen begleiten und unterstützen werden, und zwar nach dem Bezugsbetreuersystem. Das bedeutet, dass die Bewohner:innen eine feste Bezugsperson haben, die vorrangig für sie zuständig ist. Perspektivisch wird dann auch noch jemand für die Hauswirtschaft eingestellt. Schließlich gehört zum Erwachsenwerden auch das Führen eines eigenen Haushalts.
Wie sieht die Betreuung denn konkret aus?
Birgit Wagner: Die Mitarbeitenden orientieren sich an den Themen der Jugendlichen. Dabei geht es in erster Linie um die Stärkung im Umgang mit der sexuellen Orientierung und/oder Geschlechtsidentität. Die pädagogischen Fachkräfte bringen bei uns auch teilweise Feldkompetenz mit und haben aufgrund ihrer langjährigen Arbeit im ambulanten Bereich einen großen Erfahrungsschatz im Umgang mit jungen Menschen gesammelt. Die Beratung und Unterstützung von queeren Jugendlichen oder auch von deren Eltern haben wir schon in der Vergangenheit bei den Flexiblen Hilfen der Diakonie Michaelshoven geleistet, immer dann wenn es zum Thema wurde. Wir haben auch immer wieder junge Menschen bei Transitionsprozessen begleitet, waren aber nicht darauf spezialisiert. Erst jetzt, durch die Kooperation, beschäftigen wir uns tiefer damit.
In der ambulanten Betreuung geht es auch darum, die Jugendlichen auf ein selbstständiges Leben vorzubereiten, dazu gehört unter anderem die Bewältigung des Alltags, die Entwicklung einer beruflichen Perspektive, aber auch der Umgang mit Krisen. Eine Vernetzung mit lokalen Netzwerken und spezifischen Angeboten ist eine unserer Kernaufgaben, um den jungen Menschen nach dem Ende der Jugendhilfe Unterstützung anbieten zu können.
Und es gibt zusätzlich Trainingsapartments?
Wir haben mehrere Trainingsapartments in Köln und Umgebung, in denen Jugendliche, die selbstständig genug sind, mit einem geringeren Stundenkontingent betreut werden.
Wir betreuen beispielsweise einen jungen Menschen in einem Trainingsapartment, der ursprünglich aus einer Kleinstadt stammt und mit der Pubertät in eine stationäre Einrichtung ins Ruhrgebiet zog, sich dort aber nicht wohl fühlte. Mit der Zustimmung der Eltern ist er dann nach Köln gezogen. Er konnte sich bis dahin nicht so ausleben, sei es alleine ein auffallendes Outfit tragen. Köln ist da offener und toleranter. Gemeinsam haben wir dann einen Ausbildungsplatz für ihn gefunden, er fühlte sich dort akzeptiert und hat nun seine Lehre begonnen. Wir begleiten ihn bei seinem Transitionsprozess, aktuell nimmt er Hormone. Sobald er volljährig ist, beginnt seine Geschlechtsanpassung. Das ist ein Beispiel dafür, dass es nicht nur einer gesetzlichen, sondern auch einer gesellschaftlichen Offenheit bedarf.
Was bedeutet queersensible Erziehungshilfe?
Birgit Wagner: Wir bieten einen Schutzraum, der wertfrei und offen ist. Die queersensible Erziehungshilfe wird z.B. dann notwendig, wenn ein junger Mensch in einer unserer stationären Wohngruppen lebt, beispielsweise in einer Mädchengruppe, und es stellt sich heraus, dass das Geschlecht nicht zur Identität passt. Dies führt in der Regel schnell zu Problemen in der freien Entfaltung, und die Gruppendynamik wird dabei belastet. Wenn sich also dieser Mensch auf der Identitäts- und Orientierungssuche befindet, stellt sich die Frage, ist dieser Mensch in einer Mädchengruppe richtig? Genau dann wird es wichtig einen Schutzraum zu bieten, in dem alles möglich ist, um sich frei entfalten zu können, das Queer sein zu zeigen und zu leben. Das ist das Besondere.
Petra Vogt: Das kann ich unterstreichen. Queersensible Erziehungshilfe beinhaltet Offenheit, Toleranz und den Jugendlichen die Möglichkeit zu geben, die eigene Identität zu finden. Wenn das Geschlecht nicht zur Gruppe passt, dann wird es schwierig, die Gruppe kommt dann an ihre Grenzen. Wenn beispielsweise ein Bewohner heute noch Fritz heißt und morgen Fritzi heißen will, dann kann das die Jugendlichen überfordern. In der Wohngruppe haben wir die Möglichkeit die Jugendlichen in der Findung ihrer geschlechtlichen Identität und sexuellen Orientierung ernst zu nehmen und zu begleiten und ihnen Unterstützung anzubieten bei den damit einhergehenden Themen. Die Jugendlichen benötigen ebenso Unterstützung in allen klassischen Jugendhilfethemen, wie Alltagstrukturierung, Schulunterricht, Ordnung, Hilfestellung bei der Kontaktgestaltung mit der Herkunftsfamilie. Hinzu kommen psychische Belastungen und Erkrankungen.
Birgit Wagner: Gerade die psychischen Belastungen bei den Jugendlichen führen oft zum Drogenmissbrauch, zur Selbstgefährdung und leider auch in den Suizid. Die Rate bei queeren Jugendlichen ist vergleichsweise höher. Deshalb arbeiten wir präventiv, um möglichst Psychiatrieaufenthalte zu verhindern.
Wie begleiten Sie die Jugendlichen beim Transitionsprozess?
Petra Vogt: Das machen wir nicht alleine, sondern mit versierten Fachleuten und Kliniken. Der Prozess ist psychisch und physisch herausfordernd und belastend, darum ist eine enge Begleitung so wichtig. Es gibt Psychologinnen und Psychologen, die sich darauf spezialisiert haben, dann arbeiten wir eng mit rubicon zusammen, einer anerkannten Beratungsstelle für LSBT*I*Q. Und es gibt Beratungsstellen wie auch Kliniken, die auf den Transitionsprozess spezialisiert sind. Es müssen beispielsweise zwei unabhängige Gutachten erstellt werden, es gibt diverse Gespräche und viele Stolpersteine, denn dieser Prozess muss gut überlegt sein.
In den Medien merkt man, wie das Thema polarisiert, alleine bei dem Thema gendergerechte Sprache oder drittes Geschlecht. Woran liegt das ihrer Meinung nach?
Petra Vogt: Ich glaube es ist ein Thema, dass viele Menschen verunsichert, das ihnen fremd ist und das sehr persönlich ist. Es entspricht nicht dem vorherrschenden heteronormativen Bild der Gesellschaft. Und daher stößt es auf Verunsicherung.
Birgit Wagner: Ich kann mich dem nur anschließen.
Sie stehen den Jugendlichen nun zur Seite. Wie kann die Gesellschaft ihnen zur Seite stehen?
Petra Vogt: Zuallererst bedarf es einer Offenheit für Vielfalt, Akzeptanz und Toleranz. Wir können nur in kleinen Schritten alles auf den Weg bringen. Sei es, dass wir für den Jugendlichen, der schillernd aussieht, einen Ausbildungsplatz finden oder mit der Familie sprechen.
Petra Vogt, Diplom Sozialarbeiterin, Kinderschutzfachkraft, Fachbereichsleitung und stellvertretende päda. Leitung in der Evanglischen Jugendhilfe Godesheim. Seit 1999 im Unternehmen in unterschiedlichsten Bereichen der Jugendhilfe tätig
Petra Wagner, Diplompädagogin, Kinderschutzfachkraft, seit 1987 bei der Diakonie Michaelshoven in der Kinder- und Familienhilfe tätig. Regionalleitung der Ambulanten Hilfen und Inklusionshilfen Köln