So auch neulich. Auf einmal lief bei uns ein Film mit sonderbaren Titel: Zeit der trunkenen Pferde. Ein iranischer Film aus dem Jahr 2000. Ich hatte keine Ahnung worum es geht, aber das passte eigentlich ganz gut zum Film, denn man wird eigentlich ohne Einleitung oder Erklärung sofort ins Geschehen hineingeworfen. Er spielt im Iran direkt an der Grenze zum Irak. Die Hauptfiguren sind 5 Kinder, der Film wird meist aus ihrer Perspektive gezeigt und obwohl es kein Tränendrüsen-Drück-Werk ist, ist er hart.
Während ich den Film schaute, den ich selbst nicht ausgesucht hatte, fragte ich mich, warum tun wir uns das an? Wieso gucke ich das? Es gibt eigentlich keine Handlung, es gibt keinen richtigen Anfang und es gibt kein richtiges Ende. Es gibt einfach nur einen Einblick in ein Leben, das extrem weit weg ist von unserer Art des Lebens. Die armen Dörfer mit dürftigen Wohnstätten sind weit verstreut, in die Stadt, in der sie immer wieder versuchen kleine Jobs zu bekommen, gelangen die Kinder nur, indem sie sich wie Gegenstände und natürlich gegen Bezahlung auf die Ladefläche kleiner Lastwagen quetschen. Das Wetter ist eisig und unbarmherzig, die Ernährung nicht reichhaltig und einseitig. Alle haben ständig dieselben Kleidungsstücke an und immer fröstelt man ein bisschen mit, denn sie reichen keineswegs aus gegen die Kälte in den Bergen. Es gibt eine ErzählerIN, was schon erstaunlich ist, es ist die zweitkleinste der Familie, 8 Jahre alt mit Namen Ameneh. Sie stattet uns immer wieder mit Grundinformationen aus. Die Hauptfiguren sind aber ihre beiden Brüder Ayub und Madi. Madi ist der Älteste, aber durch eine Behinderung ist er nicht gewachsen und auch geistig eher im Kleinkindalter stehen geblieben. Ayub ist erst 12, aber auf ihn lastet ein Großteil der Verantwortung für die Familie, deren Mutter bei der Geburt der kleinsten Schwester gestorben ist. Der Vater ist viel unterwegs und versucht mit Schmuggelhandel zwischen Iran und Irak ein wenig Geld zu verdienen. Das ist eine gefährliche Sache, denn das Grenzgebiet ist stark vermint und so ist der Film erst wenige Minuten im Gange, da wird der tote Vater ins Dorf gebracht, eine Mine hat ihn und das Maultier erwischt. Das ist heftig und traurig, aber für Trauer ist nicht viel Zeit, denn nun ist die kleine Familie ganz auf sich gestellt und Ayub, der schon vorher sehr viel geleistet hat, muss nun noch viel mehr ranklotzen. Zumal sein behinderter Bruder gesundheitlich nicht so gut aufgestellt ist und er operiert werden soll. Der Arzt, über den man sich während des Schauens Gedanken macht, wo und ob er die Kunst des Heilens wohl gelernt hat, gibt Ayub nur wenig Hoffnung, denn auch mit OP hat Madi nur eine Lebenserwartung von wenigen Monaten, aber Ayub will es mit aller Kraft erreichen.
Zwei Dinge haben mich besonders beeindruckt: Zum Einen die Freundlichkeit, die trotz der harten Lebensbedingungen innerhalb der Familie, aber durchaus auch innerhalb der Dorfgemeinschaft vorherrscht. Zum Anderen das Annehmen des Schicksals, egal, was es so bringt.
Man stelle sich einen Haushalt vor, in dem 5 Kinder im Alter von 2-16 Jahren ganz auf sich gestellt sind, die Älteste sich um den Haushalt, das Essen und die Versorgung der Kleinsten kümmert und das 12 Jährige Familienoberhaupt den ganzen Tag körperlich hart arbeitet, um die Nahrung, die nötigen Medikamente und die Schule für die zweitjüngste zu gewährleisten. Und trotzdem geht es gesittet und freundlich in der kargen, aber sauberen Hütte zu. Die Geschwister akzeptieren einander, stehen füreinander ein und nehmen Rücksicht aufeinander. Hier in unserem Kulturkreis erscheint mir das unvorstellbar.
Der Film ist aus der Sicht der Kinder gedreht, aber man sieht nirgendwo Spielzeug, allerdings gibt es auch für die Erwachsenen kein Freizeitangebot. Die Versorgung ist dürftig, aber man ist froh über alles, was man bekommt. Die Anforderungen an die kleine Familie wachsen immer mehr, aber nie jammert einer oder beschwert sich. Es wird getan, was getan werden muss, auch wenn es manchmal keine Hoffnung gibt, dass es überhaupt gelingen kann. Dabei läuft das keineswegs gefühllos ab, es wird geweint und die Verzweiflung steht den Kindern immer wieder in den Gesichtern geschrieben, aber es hilft ja alles nichts. Es ist so, wie es ist und da muss man jetzt durch. So agieren auch die Erwachsenen, es gibt kein Mitleid, manche kümmern sich, aber nur in dem Maße, in dem es geht. So gibt es noch einen Onkel, aber der hat selbst 8 Kinder und kann die 5 nicht noch mitaufnehmen. Zu manchen Gesprächen, wenn es um Arbeitsverhandlungen oder Hochzeitsverträge geht, kommt er mit dazu, mehr geht nicht. Ayub kann selbst nicht mehr zur Schule gehen, er muss ja arbeiten, aber er beschwert sich nicht, im Gegenteil die Ausbildung seiner kleinen Schwester Ameneh scheint ihm umso wichtiger. Vielleicht nach dem Motto, eine von uns soll dann doch mal eine andere Perspektive haben und ein kleines bisschen tragen wir Zuschauer diese Hoffnung mit.
Während ich den Film schaute, fragte ich mich, warum ich mir das antue, nach dem Film war ich froh, dass ich ihn gesehen habe. Wir drehen uns hier in unserer kleinen reichen Welt viel zu oft um uns selbst und das tut uns nicht gut. Wir sind satt und verwöhnt und dennoch nur in seltenen Fällen wirklich glücklich, wir meckern und zetern über unsinniges Zeug… und das ist schlecht!
Ich vergleiche ungern Leid miteinander, denn ich bin eigentlich der Meinung, dass das gar nicht geht, aber vielleicht sollten wir das mal mit „GLÜCK“ versuchen. Wir können uns so glücklich schätzen, dass wir hier alles haben, was wir brauchen und noch viel mehr. Wir sollten es wahrnehmen und sehr sehr froh darüber sein, anstatt uns dauernd darüber auszulassen, was alles nicht 100 Prozent großartig läuft oder noch einen Ticken besser gehen könnte. Und wenn wir dann wahrnehmen, wie reich beschenkt wir hier sind, dann wäre ein wenig Dankbarkeit und Demut ganz angebracht. Denn in den meisten Ecken der Welt sieht es so unvorstellbar anders aus als bei uns und dass es uns so gut geht, ist in den meisten Fällen nicht die Folge davon, dass wir selbst irgendwas besonderes geleistet hätten und damit unser Wohlbefinden „verdient“ hätten, sondern wir haben einfach Glück gehabt. Das ist ungerecht, aber es ist OK, dafür müssen wir uns nicht selbst bestrafen oder schlecht fühlen!
Meine Hoffnung ist, dass uns Dankbarkeit dazu bringt, die Verhältnisse in ein graderes Licht zu rücken, was dann wiederum dazu führen könnte anderen Menschen mehr zu gönnen, mehr zu zugestehen, lockerer auf etwaige Einschränkungen zu reagieren und verständnisvoller zu werden. Und als Nebeneffekt auch insgesamt zufriedener mit dem eigenen Leben zu werden.
Eine gute Zeit mit viel Anlass zu Dankbarkeit wünscht Ihnen,
Ihre Iris Gronbach
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